Stich- und Streitpunkte zum Bürgergeld – Kamp 19.05.2024

Das neue Bürgergeld, das im Januar 2023 eingeführt wurde und das alte Hartz IV-System ablöste, ist hoch umstritten. Erwerbsfähige Arbeitslose sollten nach dem Willen der Regierungs-Koalition besser ins Arbeitsleben integriert werden. Sie sollten weniger Druck zur Annahme schlechter Jobs erfahren. Die Fachkräfte des Jobcenters sollten kooperativer mit ihnen nach einer Arbeitsstelle oder oder Verbesserung ihrer Bildung und Ausbildung suchen. Die Strafe bei Kooperations-Verweigerung sollten geringer sein. In unserem Papier versuchen wir zu skizzieren, was aus den Ideen wurden.
Hier kann unser Papier (inzwischen eine aktualisierte Version) heruntergeladen werden:

Und hier ein Foliensatz dazu, einmal als pdf, einmal als ausführbare Datei:

3 Gedanken zu “Stich- und Streitpunkte zum Bürgergeld – Kamp 19.05.2024

  1. Bürgergeld – Kein Grund für Sozialstaatspopulismus

    R. Klaus Schneider

    Die Entwicklung des Sozialstaates, die Gestaltung seiner Leistungen und seine Finanzierung sind seit langem ein Feld kontroverser Debatten. Darin werden von Sozialstaats-Kritikern, darunter nicht nur neoliberale Ökonomen, konservative Politiker und Arbeitgeber, sondern auch „rechtschaffende ArbeitnehmerInnen und SteuerzahlerInnen“, immer wieder Klischees und Mythen beschworen. Dazu tragen von Boulevard-Medien absichtsvoll präsentierte, schlagzeilenträchtige, Fakten auslassende oder verzerrende und Empörung auslösende Geschichten bei. Unvergessen in diesem Zusammenhang ist jene von „Florida-Rolf“, einem angeblichen „Sozialschnorrer“, dessen Miete für eine Wohnung in unmittelbarer Strandnähe in Miami Beach von deutschen SteuerzahlerInnen finanziert werde. (Hintergrund-Infos zu diesem Fall: Florida-Rolf – Wikipedia)

    https://de.wikipedia.org/wiki/Florida-Rolf

    Die mediale Dauerberieselung mit dieser und ähnlichen Geschichten, aber auch bewusst falsche Aussagen über Armut, ihre Ursachen wie über sozialstaatliche Leistungen haben dazu beigetragen, dass sich der Mythos von vermeintlich „faulen EmpfängerInnen von Bürgergeld“, die sich auf der Grundlage eines angeblich bedingungslosen Bezuges von steuerfinanzierten Leistungen in der „sozialen Hängematte“ wohnlich eingerichtet haben und dem Müßiggang hingeben, verfestigt hat. Dabei ist das Bild von der „sozialen Hängematte“, mit dem Kritiker häufig das Netz der sozialen Sicherung beschreiben, irreführend. Der kürzlich verstorbene Sozialwissenschaftler Wolf Wager hat bereits vor langer Zeit ausführlich dargelegt, dass das Netzt der sozialen Sicherung nicht „nach unten durchhängt, damit man sich ruhig hineinfallen und sich auffangen lassen kann“, sondern in Wirklichkeit umgestülpt ist. „Dort wo es an den Seiten sichernd und stützend hochgespannt sein müsste, damit man zur Mitte hin rollt und nicht abstürzt, fällt es zum Rand steil ab.“ Die Konsequenz: EmpfängerInnen von Soziallleistungen können sich auf einer umgestülpten Hängematte schlecht ausruhen; sie müssen sich abstrampeln, um nicht in Armut abzustürzen.i Das war und ist (sozial)politisch so gewollt. Zahlreiche der Haushaltsstrukturgesetze und nicht zuletzt die sogenannten Hartz-Reformen haben dies immer wieder bekräftigt.

    Für die Reform der Grundsicherung für Arbeitsuchende, für die Einführung des Bürgergeldes – das keinen radikalen Systemwechsel hin zu einem bedingungslosen Grundeinkommen darstellt – gab es viele gute Gründe. Gleichwohl lässt sich darüber streiten, ob die damit erfolgte „Reform“ vorausgegangener Maßnahmen geglückt ist. Nichts deutet jedoch darauf hin, dass das Bürgergeld den Anreiz, einen Job aufzunehmen, wie immer wieder behauptet wird, reduziert habe. Die Behauptung, die Möglichkeit des Bezuges von Bürgergeld veranlasse Beschäftigte zur Kündigung und zu Müßiggang, ist nicht haltbar. Zu ihrer Unterstützung liegen keine empirischen Befunde vor. Kurz: Nichts spricht für die These, dass der Bezug von Bürgergeld generell attraktiver ist als der Verbleib in Beschäftigung.

    Bei der Diskussion um fehlende Arbeitsanreize wird zudem oft übersehen, dass viele BezieherInnen von Bürgergeld nicht arbeitslos sind. Im Dezember 2023 traf dies auf rund 2,2 Millionen der annähernd 3, 9 Millionen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten zu. Kritiker des Bürgergeldes übersehen ebenso, dass einer Vermittlung von LeistungsempfängerInnen in eine bedarfsdeckende Beschäftigung viele Hürden entgegenstehen. Dazu gehören u. a. fehlende Qualifikationen, gesundheitliche Einschränkungen, unzureichende Betreuungsmöglichkeiten und nicht zuletzt eine seit 2022 schwächelnde Wirtschaft mit sinkenden Einstellungsmöglichkeiten. Deshalb ist es nicht überraschend, dass vielen Menschen ein Übergang aus dem Bezug von Bürgergeld in eine Beschäftigung nur zeitweise gelingt. Allerdings bestand dieses Problem auch schon vor der Einführung des Bürgergeldes.

    Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass sich entgegen den Behauptungen des Sozialstaatspopulismus, der nicht nur von CDU und FDP geschürt wird, mit stärkeren Sanktionen bei BürgergeldempfängerInnen und niedrigeren sozialen Leistungen nicht viel Geld sparen lässt um öffentliche Haushalte und die Wirtschaft zu entlasten. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit wurden 2022 mit Blick auf die Grundsicherung für Arbeitssuchende rund 119.000 Fälle von Leistungsmissbrauch oder Verdacht auf Leistungsmissbrauch dokumentiert. Gemessen an der Gesamtzahl von mehr als fünf Millionen Bürgergeld-Berechtigten ist der Anteil der (Verdachts-)Fälle und Verfahren wegen Betrug und Missbrauch damit eher gering. Schätzungen für das Jahr 2021 bezifferten den Schaden durch Hartz IV-Betrug auf etwa 60 Millionen Euro.

    Dieser Betrag entspricht etwa einem sechzigstel (1,66% !!) des Betrages, der im Zuge der von der (nicht gerade für effektive und wirksame Arbeit bekannten) Steuerfahndung 2022 bearbeiteten 30.000 Fälle von Steuerhinterziehung und Steuerstraftaten, bei denen Mehrsteuern in Höhe von rund 2,4 Mrd. Euro ermittelt wurden. Schätzungen gehen allerdings davon aus, dass sich die gesamtwirtschaftlichen Kosten für Steuerhinterziehung und andere Formen der Steuerstraftaten auf annähernd 100 Milliarden Euro jährlich belaufen.

    Die im Vergleich dazu geringe Summe, auf die sich der vermutete Leistungsmissbrauch beim Bürgergeld beläuft, ist kein Grund, um in begründeten Missbrauchsfällen auf Leistungsminderungen – Sanktionen – zu verzichten. Aber Sanktionen sind kein geeignetes Mittel, um den Anreiz zur Arbeitsaufnahme zu stärken. Betroffen von Sanktionen war im Jahr 2022 nur eine kleine Minderheit der Leistungsberechtigten, nämlich 2,7 Prozent; gegenüber 2019 entspricht dies einem Rückgang der Sanktionen um mehr als zwei Drittel. Von den 2021 ausgesprochenen Sanktionen betraf etwa ein Viertel der Fälle die Weigerung, eine Arbeit oder eine aktivierende Maßnahme aufzunehmen oder fortzusetzen. In mehr als der Hälfte der Fälle wurden jedoch Sanktionen ausgesprochen, weil Termine nicht eingehalten oder versäumt wurden.

    Zusammengefasst: Die Fakten widersprechen der Mär vom überbordenden Sozialstaat und seinem weit verbreiteten Missbrauch. Der Anstieg der Sozialausgaben hat seine Ursachen nicht, wie Sozialstaatspopulisten immer wieder behaupten, in vermeintlicher Faulheit oder fehlender Leistungsbereitschaft der Menschen.

    Die populistische Debatte über den angeblich überbordenden Sozialstaat instrumentalisiert von Armut Betroffene Menschen und spielt sie gegen die sogenannte „hart arbeitende Mitte“ aus. Sie polarisiert die Gesellschaft. Es ist Zeit, ihr entgegenzutreten und die Aufmerksamkeit auf große gesellschaftliche und politische Herausforderungen zu richten und sie zu bewältigen.

    Literaturhinweis: Wagner, W.: Die nützliche Armut. Eine Einführung in die Sozialpolitik, Berlin 1982, S. 7 f.

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  2. Dr Kamp hat das alles sehr ausführlich zusammengetragen, aber keine Konsequenzen vorgeschlagen. Die Befragung der Job Center Mitarbeiter zeigt zwar bereits deutlich die Schwächen und den dringenden Reformbedarf auf, aber Missbrauch und und zusätzliche Einkünfte durch Schwarzarbeit und Kriminalität bleiben unerwähnt. Ein krasses Beispiel aus der Presse ein nicht vermittelbarer gläubiger Muslim aus Nigeria mit deutschem Pass, mehreren Frauen und noch mehr Kindern bezieht dauerhaft jährlich Bürgergeld im sechsstelligen Bereich. Wahrscheinlich bezieht er dazu noch Einkünfte durch Schwarzarbeit oder Kriminalität wie viele andere Empfänger von Bürgergeld! Da geht rechtschaffenden Arbeitnehmern und Steuerzahlern zu Recht vor Wut das Messer in der Tasche auf und es ist kein Wunder, dass die dafür verantwortliche SPD einstellige Wahlergebnisse erzielt und die eigentlich für Demokraten unwählbare AfD Erfolge feiert!

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    • @Reinhard
      „Dr Kamp hat […] keine Konsequenzen vorgeschlagen“
      Das ist auch nicht Sinn einer Analyse; eine Analyse zerlegt, wie das Wort selbst aussagt.
      Dies hat der Autor ausführlich getan, indem er vielfältige Aspekte beschrieben hat.
      Als geeignete Überleitung zu einer Konsequenz hat er drei konkrete Standpunkte auch aufgeführt, ein idealer Einstieg für die anstehende OV-Versammlung.

      „Missbrauch und und zusätzliche Einkünfte durch Schwarzarbeit und Kriminalität bleiben unerwähnt“
      Welche Kriminalität entsteht außer Missbrauch (Sozialbetrug) und Schwarzarbeit (Sozialbetrug und Steuerhinterziehung)?
      Zur Schwarzarbeit wird in den o. g. drei Standpunkten Stellung genommen.
      Auch wird erörtert, warum ein totales Verbot von Zusatzeinkommen ebenso schädlich ist wie die unbegrenzte Möglichkeit von Zusatzeinkommen.

      Zum Missbrauch wird nichts gesagt. Welche neuen Anreize gibt es seit 2022 dafür?

      Das angeführte Beispiel des polygamen Nigerianers ist möglich, weil religiöse Eheschließungen seit 2009 vor (!) der standesamtlichen möglich sind. Die antragstellende Zweitfrau kann daher als vermeintlich Alleinstehende Leistungen beziehen. Das hat nichts mit dem SGB, sondern mit dem Personenstandsrecht zu tun.

      Zum Ausmaß von Missbrauch und Schwarzarbeit hier ein Link:
      https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/sozialbetrug-clans-ausmass-100.html

      Die Wut der Rechtschaffenden ist evtl. eher darin begründet, dass Steuerhinterziehung medial weniger als Sozialbetrug geächtet ist.
      Hinzu kommt, dass contra factum immer noch erzählt wird, mit Arbeit erhalte man weniger als ohne.
      Die Höhe des Bürgergeldes ist verfassungssicher (einschl. der Erhöhungen) als Mindestsicherung i. S. von Art. 1, Abs 1, S. 1 GG.
      Da bleibt dann noch eine Stellschraube: Lohnerhöhungen.

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